Pädagogisch-didaktisches Konzept

Reuchlin digital verbindet Kulturelle Bildung und Medienbildung

Orale Kulturen, Schrift- und Buchkulturen, visuelle Kulturen und digital vernetzte Kulturen bringen jeweils unterschiedliche Möglichkeiten der Artikulation (des Denkens, des Ausdrucks, der Kommunikation, der Wissenschaften, der Künste) hervor. (Benjamin Jörissen, 2013)

Diese kulturellen Möglichkeiten (auch im historischen Kontext) zu entdecken und zur Entfaltung persönlicher Stärken und Interessen nutzbar zu machen ist auch eine Aufgabe von Reuchlin digital. Derartige Erfahrungswelten existieren aber vor allem außerhalb der Schule und digitale Medien ermöglichen es, fast jeden außerschulischen Ort als Lernort zu erschliessen. Er wird in einen Möglichkeitsraum verwandelt, der Lernende (nicht nur Schülerinnen und Schüler) dazu befähigt, sich in der Welt zu orientieren und diese kritisch-reflexiv und kritisch-partizipativ wahrzunehmen und sich darin und dazu zu verhalten.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss sich das Museum als außerschulischer Bildungsort wandeln und partizipativer werden. Lernende müssen die Möglichkeit erhalten, nicht nur Betrachterinnen oder Betrachter zu sein, sondern sie müssen zu Mitgestalterinnen und Mitgestaltern werden können.

Peter Weibel (Leiter des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe) hob bereits 2007 die Bedeutung des «User Generated Content» hervor und hinterfragte mit Blick auf Museen, ob diese weiterhin am Prinzip «Arche Noah» festhalten könnten und «sagen, wir haben die Definitionsmacht, wir können sagen und beurteilen, was Kunst ist, wir wählen aus, was Kunst ist, und Sie, die Betrachter/Besucher, dürfen ins Museum kommen und vor den von uns ausgewählten Kunstwerken auf die Knie fallen.»

Der Begriff des «User Generated Content» steht in engem Zusammenhang mit den Veränderungen der Netzkultur durch des Web 2.0 und die damit verbundene Entwicklung des Nutzers vom reinen Konsumenten zum Prosumenten, der durch vielfältige und leicht zu bedienende Tools selbst in die Lage versetzt wird, mediale Produktionen und damit auch Kunst hervorzubringen. Mit diesen Entwicklungen geht auch eine Veränderung im Bereich des Konsums einher (vor allem von Musik und Video). Die JIM-Studie 2018 belegt, dass mittlerweile 77% aller Familien in Deutschland Videostreaming-Dienste wie Netflix oder Amazon Prime nutzen. Dies bringt auch Veränderungen im Konsumverhalten und der Konsumerwartung mit sich und zwar weg von der Linearität, der vorgegebenen Struktur des klassischen Fernsehens und Radios und hin zu einer selbstbestimmten On-Demand Kultur, welche individuelle Konsumentscheidungen zulässt.

„[w]enn wir […] weiter so verfahren wie ein Fernsehsender […] und der Betrachter nicht die Möglichkeit hat, selbst ein Programm zusammenzustellen, dann wird das Museum obsolet“ (Peter Weibel, 2007)

Gerade bezogen auf das Verständnis des Prozesses der Digitalisierung und den Umgang mit den dadurch entstehenden Potenzialen und Gefahren gibt es erhebliche Schnittmengen zwischen Kultureller Bildung und Medienpädagogik. Mit einer Denkschrift zum Schwerpunktthema Kulturelle Bildung und Digitalisierung zeigt der Rat für Kulturelle Bildung, «welche Potenziale Kulturelle Bildung bereithält, um die Digitalisierung in der Schule zu gestalten.»

Der Umgang mit den Künsten ermöglicht grundlegende Erfahrungen – wie die Schulung der Wahrnehmung, den Prozess des Auswählens oder den Umgang mit Vieldeutigkeit – die im Kontext der Digitalisierung immer wichtiger werden. Bei kreativen Kulturangeboten mit Musik, Tanz oder Video entwickeln Kinder und Jugendliche auch inhaltliches Interesse am Thema Digitalisierung. Wollen sie beispielsweise selbst im Internet produktiv sein, oder später in kreativen, kommunikativen oder den MINT-Bereichen arbeiten – auch hier geht es um neue Ästhetiken, Kulturen und Lebensentwürfe – brauchen Jugendliche Erfahrungen und Kenntnisse kultureller und ästhetischer Inszenierungs- und Gestaltungsprozesse. Diese werden mit Angeboten Kultureller Bildung traditionell erschlossen. (Rat für Kulturelle Bildung, 2019)

Handlungsorientierung, das Aufgreifen lebens- und medienweltlicher Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern sowie die Förderung aktiv-produktiver und kritisch-reflexiver Nutzung digitaler Medien sind wichtige Ziele für die Vermittlungsformate des Projekts RD. Unterstrichen werden die Projektziele auch durch die neusten Empfehlungen des Rats für Kulturelle Bildung, die das hohe Aktivierungspotenzial der audiovisuellen Medien aufgreifen. Sie regen an,

„die eigene Produktion Jugendlicher mit audiovisuellen Medien, […] zu eigner künstlerischer Aktivität und Rezeption durch diese Medien sowie zur kritischen Reflexion der mit ihnen verbundenen Qualitäten und Realisierungsformen [zu fördern].” (Rat für Kulturelle Bildung, 2019)

Unter dem Primat des Pädagogischen geht es bei der Ausgestaltung der außerschulischen Erfahrungen im Projekt Reuchlin digital auch darum, die vielfältigen Potenziale des Digitalen zu nutzen und sie den beteiligten Schulen aufzuzeigen. Eingeordnet in das SAMR Modell nach Puentedura (siehe Abb. unten) kommen im Projekt Reuchlin digital Lehr/Lern Szenarien zum Einsatz, die transformativen Charakter haben, in die Kategorie der «Redefinition» fallen und ohne Nutzung digitaler Medien gar nicht denkbar wären.

Wie dringlich das Aufzeigen dieser qualitativ höherwertigen Standards ist, die unter Einsatz digitaler Medien erreicht werden können, verdeutlicht Thomas Knaus. Er hospitierte im Unterricht an fast 200 Schulen. Dabei stellte er fest, dass die Nutzung digitaler Medien im Regelunterricht selten aktiv-konstruierend, sondern meist passiv-rezeptiv erfolgt: zum Präsentieren, zur Recherche im Web oder zum Lesen von PDFs. Dass diese Art von Tätigkeiten im Hinblick auf eine umfassende Medienkompetenzbildung unzureichend ist, zeigt die ICILS 2018 (International Computer and Information Literacy Study). Ähnlich wie schon 2013 belegt sie, dass 33,2% der deutschen Achtklässlerinnen und Achtklässler (ein unverändert hoher Prozentsatz) nur rudimentäre, vorwiegend rezeptive Fähigkeiten und sehr einfache Anwendungskompetenzen vorweisen können und nur über basale Wissensbestände und Fertigkeiten hinsichtlich der Identifikation von Informationen und der Bearbeitung von Dokumenten verfügen.  Das heißt, dass einem Drittel der Jugendlichen in Deutschland ein selbstbestimmter und partizipativer Umgang mit den Möglichkeiten der Entwicklungen der Digitalisierung größtenteils verwehrt bleiben. Beachtet man nun den weitgehenden Konsens, dass Medienkompetenz zu den zentralen Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts gehört muss ein Projekt wie Reuchlin digital auch das Problem dieser digitalen Spaltung berücksichtigen und diesem entgegenwirken. Dies geschieht im Projekt durch die Zusammenarbeit von Schule (Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Schulleitungen), Hochschule (Studierende und Dozierende), dem Kulturamt Pforzheim und dem Team der Kulturellen Bildung der Stadt Pforzheim. Dabei entstehen für alle Beteiligten erhebliche Mehrwerte.